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56068 Koblenz

Casinoball 2025

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Ist Deutschland zerrissen?

Als Festredner beim Casino wagte Ex-Intendant Professor Dieter Stolte düstere Bestandsaufnahme.

Freiheit, Urbanität, Eintracht: Als 64 Deutsche und sechs Franzosen am Dreikönigstag 1808 das Casino zu Coblenz stifteten, gründeten sie die neue Gesellschaft auf Fundamenten, die Toleranz und Weltoffenheit ermöglichten. Auch 200 Jahre danach pflegt das Bürgerforum seine traditionellen Werte. Das wurde gestern Abend beim Festakt zum Jubiläum in der Rhein-Mosel-Halle deutlich.

KOBLENZ. In seiner 200-jährigen Geschichte war das Casino zu Coblenz immer mehr als ein Ort der Erbauung und der Geselligkeit. Das hoben beim gestrigen Festakt Direktions-Vorsitzender Hans-Jörg Assenmacher und Dr. Eberhard Schulte-Wissermann hervor. Der Oberbürgermeister war als Mitglied der Gesellschaft in die Rolle des Laudators geschlüpft. Er stellte heraus, dass die Gesellschaft von Anfang an aktiv Kultur- und Bildungspolitik gestaltete und erinnerte an die Gründung des Musikinstituts durch Casino-Mitglieder.

Auch heute noch sieht sich die Gesellschaft als Teil eines Systems, das ein Auseinanderdriften der Gesellschaft verhindern und Demokratie gestalten kann. Ein hoher Anspruch, dessen Erfüllung fast an Diktatur und zwei Weltkriegen gescheitert wäre. Doch am Ende waren es Zuverlässigkeit, Bescheidenheit und der Wille von Koblenzer Bürgern, gute Staatsbürger in einer Demokratie zu sein, die dazu beitrugen, das Gemeinwesen und damit auch das Casino zu Coblenz mit Leben zu erfüllen.

Während der Oberbürgermeister die guten Eigenschaften des Bürgertums aus dem frühen Demokratiebegriff des Aristoteles ableitete, dürfte sich in diesen Tagen so mancher die Frage stellen, ob traditionelle Bürgergesellschaften heute überhaupt noch zeitgemäß sind.

Der vom Spohr-Ensemble musikalisch gestaltete Abend lieferte eine klare Antwort: Vereinigungen, die nicht nur über die kulturellen Wurzeln Deutschlands reden, sondern sie auch pflegen, liefern einen entscheidenden Beitrag, ein Auseinanderdriften des Landes zu verhindern. Dass machte auch der Festvortrag von Prof. Dieter Stolte deutlich. Unter dem Titel „Was uns in Deutschland zusammenhält“ lieferte der frühere ZDF-Intendant eine sehr düstere Bestandsaufnahme der Bundesrepublik. Die Erfolge der Linkspartei sind für ihn ein Zeichen, dass die Mauern in den Köpfen wieder größer geworden sind.

Der Professor machte ferner auf eine Zunahme von Desintegrationsprozessen aufmerksam, für die er vor allem die Medien verantwortlich machte. Stolte arbeitete ein Nachlassen der Analyse von öffentlich Relevantem, eine Überindividualisierung von Unterhaltung mithilfe moderner Elektronik und eine Dominanz von wirtschaftlichen Interessen gegenüber den Inhalten als aktuelle Schwachpunkte heraus.

Ist Überindividualisierung der Feind von Identifikation? Für Stolte lautete die Antwort eindeutig Ja. Für ihn ist derzeit nur der Sport geeignet, vorübergehend Identifikation zu schaffen. Dauerhaftigkeit könne dagegen nur durch die Pflege von Sprache und kulturellen Wurzeln entstehen. Ein gesundes nationales Selbstbewusstsein und ein verantwortungsvoller Umgang sind für den Professor die Voraussetzung für einen vernünftigen Beitrag zur Internationalisierung und damit auch zur Überwindung der Mauern in den Köpfen. Die Wirklichkeit sieht Dieter Stolte jedoch wesentlich negativer. Die einstige Klage Friedrich Hölderlins über die innere Zerrissenheit Deutschlands und seiner Bürger ist für den Ex-Intendanten angesichts der mit der Globalisierung verbundenen Zunahme der Alterssorgen aktueller denn je.   (ka)

Bericht aus der Rhein-Zeitung vom Montag, den 9. Juni 2008, Seite 4 unten: